Es geht weder um die Soziologie noch um die Moderne als solche, sondern um das Rätsel einer intellektuellen Beziehung, die auch jenseits der nationalsozialistischen Vergangenheit Gehlens allen Selbstbeschreibungen und politischen Ortsbestimmungen entgegenstand: Die beiden Theoretiker schienen ja in geradezu idealtypischer Weise die gegensätzlichen Pole eines an Emanzipation orientierten linken und eines an traditionellen Institutionen orientierten konservativen Denkens zu repräsentieren. Schon die Ostberliner Szene, mit der das Buch beginnt, weckt die höchsten Erwartungen: Der marxistische Philosoph Wolfgang Harich und Manfred Wekwerth, Chefregisseur des Berliner Ensemble, hören da im Sommer 1965 atemlos die Aufzeichnung eines der Radiogespräche Adornos mit Gehlen. Als ihn die rechte Zeitung „Student“ um einen Beitrag zum hundertsten Jahrestag der „Reichsgründung“ am 18. Januar 1871 bat, zeigte er sich bewegt, lehnte aber ab: „Der 18. Januar weckt in mir nur bitterste und hoffnungslose Gedanken.“ Die Verzweiflung war wohl umso größer, als ihm die eigene Theorie keinen Ausweg jenseits der jetzt gerade vorhandenen Institutionen wies; er musste seine Reichsbürger-Ressentiments mit sich selbst ausmachen.
Author: Mark Siemons
Published at: 2025-03-31 11:58:20
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