„Die tieferen Gründe“: Leitartikel des Tagesspiegel-Gründers Erik Reger vom 4. Juni 1946

„Die tieferen Gründe“: Leitartikel des Tagesspiegel-Gründers Erik Reger vom 4. Juni 1946


Herr Adenauer sagte also, daß ein wahrlich nicht beneidenswerter Teil unseres Volkes heute die Begebenheiten zwischen 1918 und 1920 als vorbildlich empfinde und nur bedauere, daß die immerhin in mancher Hinsicht andersartigen Verhältnisse nicht gestatteten, sie durchweg nachzuahmen (wenn es auch in Tübingen schon wieder gelungen ist, französische Fahnen zu entfernen)) daß eine nicht unbeträchtliche Anzahl Deutscher einer Demonstration wie der oben geschilderten vom 14. Juli 1920 noch nachträglich Beifall spende, daß man aber diejenigen, die es nach Wiederholung gelüste, darauf aufmerksam machen könne, daß das, was ihnen großartig erscheint, auf dem fatalen Bewußtsein der Minderwertigkeit beruhe, weil ein Mensch und eine Nation, die ihrer selbst sicher seien, die Notwendigkeit, sich in aller Form wegen eines Fehlers zu entschuldigen, nicht als Schmach, sondern als sittliche Verpflichtung empfänden; daß, wenn eine Diskussion über die unmittelbaren Zusammenhänge beim Kriegsausbruch 1914 noch möglich sei, das Jahr 1939 die Alleinschuld Deutschlands klar erwiesen habe; daß die Tapferkeit der deutschen Soldaten nicht dem Wohl, sondern der Vernichtung von Volk und Vaterland gedient und Hitler den Krieg so lange und auf eine solche Weise geführt habe, damit alle Deutschen mit dem Nationalsozialismus bis zur Unteilbarkeit der Schuld identifiziert werden müßten; daß unser heutiges Schicksal von dem Unrecht bestimmt werde, das wir in einer nicht abreißenden Kette der Welt zugefügt hätten und wohl noch fortführen zuzufügen, wenn uns nicht die Gewalt fremder Waffen endlich daran gehindert hätte; daß es uns, die wir uns lange Jahre prahlerisch außerhalb des Rechtes gestellt haben, übel kleide, wenn wir die in den Sternen geschriebenen ewigen Rechte in dem Augenblick anriefen, da wir ernteten, was wir gesät hätten; und daß die einzige Waffe, die wir selbst künftig zu .tragen gedächten, das Wissen um die Ursachen sei und der Wille, ihnen und damit einer Wiederkehr der Geschichte von 1918 bis 1945 den Boden zu entziehen. Daß die Parteiführer nicht Gelegenheit nehmen, dem Volke vor Augen zu halten, in welchem Maße sich der Nürnberger Prozeß zu einer historischen Dokumentation entwickelt hat und welche Folgerungen sich aus den vernichtenden Erkenntnissen ergeben, daß sie es nicht vermögen, ihm die Erholung aus den Verwirrungen der Niederlage gerade durch die Härte der Lehre darzustellen, daß es ihnen nicht geglückt ist, ein leidenschaftliches Begehren nach Bestrafung der Schuldigen, nach Aechtung der großen und kleinen „Führerbefehlsausführer“, nach Atomzertrümmerung jeder militärischen Regung zu erwecken und ihre Streitbarkeit und Unerschrockenheit nach dieser Richtung landauf, landab zu bewähren — darin besteht ihr geschichtliches Versäumnis, dies ist der Grund, wenn, wie Herr Adenauer behauptet, der Nationalsozialismus nicht tot ist, dagegen, gegen unsere eigenen Fehler, und nicht gegen die der Alliierten, wendet sich in Wirklichkeit das „J’accuse“, dem Adenauer eine glücklichere Beredsamkeit widmen sollte. Und ebenso wie wir mit den Nationalsozialisten ihre geistigen Wegbereiter auf eine Stufe stellen müssen (woran die Tatsache nichts ändert, daß manche von ihnen, die den „neuen Nationalismus“ und den „neuen Sozialismus“ gepredigt hatten, von den Usurpatoren später verfolgt wurden), so müssen wir alle diejenigen als Feinde einer deutschen Demokratie betrachten, die wiederum mit totalitären Methoden arbeiten und den der echten Demokratie heimlich Widerstrebenden Wasser auf die Mühle leiten oder, noch schlimmer, in den Augen der Unwissenden und Unbescholtenen die Demokratie diskreditieren, indem sie mit berechnender und doch durchschaubarer Maskerade ein falsches Bild von ihr geben und die Besorgnis nähren, daß sie nicht zögern würden, die freie Demokratie zu unterdrücken, sobald sie mit Hilfe ihrer verdächtig pleonastischen „Volksdemokratie“ die Macht erschlichen hätten.

Author: Der Tagesspiegel


Published at: 2025-06-04 18:43:44

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