Aber wenn überhaupt noch etwas zu beweisen bleibt, so beweisen sie dies: daß sie die gelernte Methode des Shakespearischen Claudius, das Einträufeln von Gift in die Ohren des Schlafenden, beherrschen wie eh und je, und daß sie die teutonische Göttermusik genau so gewandt und lustig auf der Hirtenflöte demokratischer Objektivität zu spielen verstehen wie das rührende Trompetensolo, das so leicht, so zart und schmelzend das Gemüt des einfachen Mannes betört, wenn es erst wieder einmal aus der staubigen Ecke eines Vereinslokals zu seinem Bierglas herüberschallen wird. Es kann über Kategorien und Stufen und Grade gestritten werden, doch es kann keine Debatte darüber geben, daß alle Pgs, ob groß oder klein, ebenso wie alle „Vgs“ („Volksgenossen“, mit dem Beigeschmack der Gänsefüßchen) ausnahmslos schuldig sind: alle diejenigen, die zwar nicht der Partei angehörten, aber dem Rattenfänger eifrig folgten, weil es bequem oder vorteilhaft schien; die unentwegt den Arm hochreckten und „Heil Hitler“ sagten, statt den Hut zu einem anständigen „Guten Tag“ zu ziehen; die nicht abwarten konnten, bis der Sammler mit der Büchse vor ihnen stand, und schon von weitem die Geldbörse zückten; die ihre Kinder gehorsam in die Hitlerjugend schickten, lange bevor der Dienst dort ein Zwangsgesetz war; die während des Krieges, ohne mit der Wimper zu zucken, die nationalsozialistischen Gesetze und „Kriegsartikel“ innehielten, die Parole „Wir müssen siegen“ herumtrugen, jedes Märchen von den entscheidenden Wunderwaffen oder bevorstehenden überraschenden Aktionen verbreiteten oder in Gefallenenanzeigen behaupteten, ihre Angehörigen „für Führer, Volk und Vaterland“ verloren zu haben; die dem Himmlerschen Terror Vorschub leisteten, indem sie unkontrollierbare Gerüchte von Bestrafungen weiterflüsterten und so die allgemeine Angstpsychose verstärkten; die eine Unterscheidung zwischen Partei und Wehrmacht aufrechterhielten, weil sie sich eine Gewissensentlastung davon versprachen, wenn Rundstedt oder Kesselring an Stelle von Hitler und Himmler die Welt unterjochten und versklavten und in Blut badeten — sie alle, die kein Fragebogen erfaßt, sie alle sind schuldig. Gewiß, eine fernere Zeit wird darüber urteilen, ob es nicht richtiger gewesen wäre, die Teufel ohne Prozeß zu hängen, mit der nüchternen Mitteilung: „Gestern vormittag acht Uhr fünfzehn wurde die Menschheit von ihrer schlimmsten Plage befreit“; eine fernere Zeit wird wissen ob der Nürnberger Prozeß die Leidenschaften, falls sie, was wir glauben, irgendwo vorhanden und nur zumeist verschüttet sind, geweckt hätte, wenn seine Atmosphäre mehr von Leidenschaft durchbebt als von äußerster Sachlichkeit gekühlt gewesen wäre; eine fernere Zeit wird entscheiden, ob die Menschheit — nicht bloß die deutsche — für die herrliche Strenge des Rechtes nach solchen die Tiefen aller Instinkte aufwühlenden Jahren empfänglich genug war, oder ob sie füglich einen dramatischeren Aktschluß erwarten durfte, übereinstimmend mit der Gewalt der ganzen apokalyptischen Tragödie; und eine fernere Zeit erst wird endlich ermessen, ob das Datum dieses Gerichtes schon zu spät oder noch zu früh war, allzu stark überschattet von dem beweglichen Gewölk des beginnenden Kampfes um Frieden und Sicherheit.
Author: Der Tagesspiegel
Published at: 2025-11-19 16:40:27
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