Aber in der Ukraine sind die Züge pünktlicher als in Deutschland

Aber in der Ukraine sind die Züge pünktlicher als in Deutschland


Unvergesslich blieb mir ein Vortrag in Dnipro über die Rockmusik in der Sowjetzeit „Rock and Roll in the Rocket City“ – das damalige Dnipropetrowsk war ein wichtiger Waffenproduzent für die sowjetische Rüstungsindustrie gewesen) und ein Leseabend in Charkiw (wir hatten bei den Lesungen immer heillos überzogen, wogegen das Publikum aber nicht protestierte), als Serhij Zhadans Band „Mannerheim“ zu früh auf die Bühne kam und Juri Andruchowytsch aus seinem „Albert“ („Albert, oder die höchste Form der Hinrichtung“), einer mystisch angehauchten Erzählung, unter psychedelischen Klängen zu lesen anfing und ich mit einer tiefen, geheimnisvollen Stimme versuchte, die deutsche Fassung hinter den Kulissen in die Dolmetschanlage parallel zu rezitieren, was Noemi Schneider in Entzückung versetzte. Ich erinnere mich an Iwano-Frankiwsk und die Video-Brücke nach Berlin (im Herbst 2020 konnten die deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer wegen Corona-Pandemie nicht in die Ukraine reisen), bei der die Verzögerung beim Ton und Bild so groß war, dass das Dolmetschen zu einem witzigen Abenteuer wurde, und bei der wir während einer abschließenden Party praktisch von einem Teller aßen; an unseren geplanten Besuch im südukrainischen Mykolajiw, der wegen fehlender Finanzierung nicht stattfand; an das friedliche Weimar mit den wertvollen Altdrucken der Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek und die extrem komplizierte Anreise dorthin aus der Ukraine, die neun Monate zuvor von Russland überfallen worden war; an Uschhorod, eine warme, kleine Großstadt im äußersten Südwesten des Landes, wo es keine Ausgangssperre gibt und wo Taxifahrer ihre Fahrgäste zu einer Weinprobe einladen – der Besuch dort war leicht und schwer zugleich, weil Viktoria Amelina in Uschhorod mit uns sein wollte, aber kurz davor von einer russischen Rakete getötet wurde. Putin bekam einen roten Teppich und eine unbefristete Verlängerung der Lizenz zum Töten; Trump ein halbstündiges Gespräch beim Fox, (das mich in der Untertänigkeit des Korrespondenten an manch ein Interview eines deutschen öffentlich-rechtlichen Senders mit dem russischen Präsidenten aus der nicht allzu fernen Vergangenheit erinnerte), wo er zusammen mit dem Journalisten über seine fantastische Gabe, Kriege zu beenden, sinnieren konnte; Alaska und Anchorage bekamen einen Staatsbesuch, dazu noch eines Kriegsverbrechers, was wohl ein einmaliges Ereignis in der Geschichte des Staates bleiben wird; der russische Außenminister die Gelegenheit, sein schräges Modebewusstsein zu zeigen, als er bei seiner Ankunft in einem hellen Sweatshirt mit einer Aufschrift СССР provozierte, von der unter einer ärmellosen Jacke dezent und symbolisch nur die beiden ersten Buchstaben zu sehen waren; der finnische Präsident womöglich eine Partie Golf und eine neue Chance, seinen amerikanischen Amtskollegen vom unübertrefflichen Putin-Zauber zu befreien; Kanada und Grönland wurde eine vorübergehende Pause in der wilden und nervigen Annexionsrhetorik gegönnt; die Norweger bekamen unverblümte Andeutungen, dass ein großer Friedensstifter am Nobelpreis interessiert sei; der tschechische Außenminister sah sich verpflichtet, in einem Tweet an die düstere Prognose des vormaligen und zukünftigen britischen Außenministers Anthony Eden zu erinnern, der kurz vor dem Münchner Abkommen vom September 1938 (das die Tschechoslowakei dazu zwang, das Sudetenland an Deutschland abzutreten) warnte, dass man durch eine Politik der Nachgiebigkeit gegenüber Gewalt zwar vorübergehend Ruhe schaffen, aber keinen dauerhaften Frieden erreichen könne; der ungarische Premierminister nutzte die Gunst der Stunde, um die Weisheit des US-Präsidenten wieder einmal zu loben; die Regierungschefs im übrigen Europa bekamen das Kopfzerbrechen und die Okkasion, innerlich zu fluchen und äußerlich Ruhe zu bewahren; und die Ukraine – die Aufgabe, den angerichteten Schaden zu reparieren.

Author: Juri Durkot


Published at: 2025-12-01 23:00:00

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